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Das Urteil des Paris

Max Klinger, Das Urteil des Paris, 1885-1887, Öl auf Leinwand, Umrahmung in Holz und Gips, 370  ...
Das Urteil des Paris
Max Klinger, Das Urteil des Paris, 1885-1887, Öl auf Leinwand, Umrahmung in Holz und Gips, 370 x 752 x 65 cm, Belvedere, Wien, Inv.-Nr. 433i
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  • Datierung1885-1887
  • Künstler*in (1857 Leipzig – 1920 Großjena bei Naumburg)
  • ObjektartGemälde
  • Material/TechnikÖl auf Leinwand, Umrahmung in Holz und Gips
  • Maße
    Gesamtmaße: 370 × 752 × 65 cm
  • SignaturSign. und dat. links unten: MAX KLINGER MDCCCLXXXV-VII
  • Inventarnummer433i
  • Standort Derzeit nicht ausgestellt
  • Creditline1901 Widmung Alexander Hummel, Triest
  • Inventarzugang1901 Widmung Alexander Hummel, Triest
  • Ohne Scheu nähern sich die Göttinnen Venus, Athena und Hera dem Hirten Paris. Sie präsentieren ihre Körper; unverwandt blicken sie auf Paris und den Götterboten Hermes. Hermes nimmt es gelassen, verharrt in selbstverliebter Athletenpose. Paris hingegen scheint vor so viel unverblümt zur Schau getragener Weiblichkeit zurückzuschrecken – wie das männliche Publikum um 1900. „Absolut fremd und verständnislos“ stünden die meisten Männer dem Bild gegenüber, schrieb der erste Besitzer des Bildes Alexander Hummel, während es von Frauen aufrichtig bewundert werde. – Selbstsicher zeigt Klinger die Göttinnen, nicht in lasziven Posen. Vor so viel Selbstbewusstsein musste die Männerwelt einfach kapitulieren.

  • Von Frauen bewundert, von Männern unverstanden? Max Klingers Urteil des Paris
    Rolf H. Johannsen ORCID logo

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    Selbstbewusst präsentieren sich in Das Urteil des Paris drei Frauen. Sie zeigen ihre Körper (Abb. 2). Es sind Aphrodite (Venus), die Göttin der Liebe, Athena (Minerva), die Göttin der Weisheit, und die Göttermutter Hera (Juno). Ihnen gegenüber sitzt der trojanische Prinz Paris: Er soll entscheiden, welche der drei Göttinnen die schönste ist. Geradezu unbeteiligt, den Blick in die Ferne gerichtet, scheint Hermes (Merkur), der Götterbote, der die drei Göttinnen zu Paris geleitet hat.

    Das Berliner Publikum spottete (wofür es bekannt war) und wendete sich bestenfalls kopfschüttelnd ab, als Max Klingers Urteil des Paris 1887 (Abb. 1) zum ersten Mal im Landes-Ausstellungsgebäude am Lehrter Bahnhof zu sehen war.[1] Die Kunstkritik reagierte ebenfalls mit Unverständnis und Ablehnung, wobei auch unterschwellig nationalistische, will heißen antifranzösische Töne angeschlagen wurden. „Wir haben es auf diesem ‘künstlerischen‘ Machwerk von Max Klinger mit dem schreiendsten Impressionismus zu thun“, war am 7. August 1887 in der konservativen Neuen Preußischen Zeitung (Kreuzzeitung) zu lesen, womit der Kritiker „P. A.“ gleichzeitig auf Klingers vorausgegangenen mehrjährigen Parisaufenthalt anspielte. Weiters sprach er den weiblichen Gestalten jegliche Idealität ab. Letzteres veranlasste Georg Malkowski zu einer polemischen Beschreibung der drei „Göttinnen“: „Mit ausgestreckten Armen und geballten Fäusten“ führt die erste der drei Frauen dem Jüngling Paris ihre Schönheit vor, so Malkowski, während die zweite ihr rotblondes Haar hebt, als wolle sie es „nach dem Gewicht verkaufen“. Die dritte rechts schließlich erschien ihm „als unreife Schöne“, die über ihrem Gewand „in Brusthöhe ein Bouquet“ hält, „um Beides baldmöglichst fallen zu lassen“. Mit einem Wort, Das Urteil des Paris war eine „Ungeheuerlichkeit“.[2] Das Bild geriet zum Skandal, auf den das Satiremagazin Kladderadatsch mit einer Göttertravestie unter dem Titel „Auf dem Olymp“ reagierte: Aufgebracht steht Aphrodite vor Zeus und beschwert sich. Ein Künstler [der nicht genannt wird] habe sie, Hera und Athena als „Vogelscheuchen“ dargestellt. Hermes rät, die Sache „mit Humor“ zu nehmen, schließlich sei er auch nicht besonders gut weggekommen. Aphrodite hingegen sinnt auf Rache, fordert Zeus auf, einen Blitz auf das Bild zu schleudern. Dies, so der Göttervater, sei gar nicht mehr so einfach, „seit sie [die Menschen] unten den Blitzableiter erfunden haben“. Überhaupt sei er gegen „so ein schneidiges Vorgehen“, denn es könnten ja auch Bilder zerstört werden, „die es nicht verdienen“. Schließlich spielt Zeus den Ball an die Göttinnen zurück, rügt seine Tochter Athena ebenso wie seine Gattin Hera, sie hätten der „Apfelsache fern bleiben und nicht an der Concurrenz theilnehmen sollen“, und empfiehlt Aphrodite, ihren „kleinen geflügelten Jungen“ (Amor / Eros) zu schicken, um den Maler (mit Liebesschmerz) zu quälen, worauf sich ja beide bestens verstehen würden.[3]

    Es war nicht das Thema, das das Berliner Publikum verstörte und die (konservative) Kritik ebenso wie den liberalen Kladderadatsch auf den Plan rief. Unzählige Male hatten Künstlerinnen und Künstler den Wettstreit der drei Göttinnen bereits gemalt. Niemand stieß sich an der Darstellung des „Nackten“, solange es „idealisiert“ und durch den Mythos gerechtfertigt war wie etwa in William Adolphe Bouguereaus berühmtem Gemälde Die Geburt der Venus von 1879.[4] Provozierend war anderes. Zum einen die unterschwellige Vertauschung der Geschlechterrollen: Paris verlegen dasitzend und Hermes – die Haltung in Anlehnung an die antike Statue des Doryphoros (Speerträger)[5] – mehr narzisstischer griechischer Athlet als listiger Götterbote. Doch Klinger ging noch weiter und „verspannte“ die Figuren von Hermes und Paris in ein rechtwinkeliges Dreieck und damit in eine starre geometrische Form (Abb. 3). Zwei der drei Schenkel bilden die Körper von Hermes und Paris. Der dritte Schenkel verläuft als gedachte Linie vom Kopf des Hermes zu den Zehen des Paris. Hinzu kommt der dunkle Waldhintergrund, vor dem die Männer stehen beziehungsweise sitzen. Ganz anders die Göttinnen, wobei auch hier wie bei der Figur des Hermes Anregungen aus der (nunmehr zeitgenössischen) Skulptur zum Tragen gekommen sein dürften:[6] Sie bewegen sich frei, autark und unabhängig voneinander vor einem lichtblauen Meereshorizont und den Ausläufern eines Gebirges. – „Jede im Ausdrucke klar und deutlich, keine Spur von Komposition, von Streben nach schönen Linien oder nach einer theatralischen Gruppierung“, heißt es dazu 1903 in der Zeitschrift Das Wissen für alle. [7] – Ohne Attitüde, ohne schamhaft abgewandten Blick oder vor den Schoß gehaltene Hand agieren die Göttinnen auf einer schmalen Bühne oder Rampe, die sich über die ganze Breite des Bildes erstreckt. Darunter, in einem durch eine Leiste abgesetzten Bildstreifen, ragen drei Köpfe plastisch hervor: in der Mitte der von Eris (Discordia), der Göttin der Zwietracht und der Eifersucht, links der des Weingottes Dionysos (Bacchus), rechts der eines mit einem Ungeheuer ringenden Titanen.

    Mit List hatte Eris dem antiken Mythos zufolge einen goldenen Apfel mit der Aufschrift „der Schönsten“ auf einem Hochzeitsfest, zu dem sie nicht geladen war, Hera, Aphrodite und Athena vor die Füße geworfen. Dieser Apfel liegt in Klingers Bild in einer Muschelschale, worin zugleich ein Hinweis auf Aphrodite (deutsch: „die Meerschaumgeborene“) zu verstehen ist: In einer Muschelschale stehend entstieg Aphrodite dem Meer.[8] Eris hält die genannte Schale mit beiden Händen über ihren Kopf, reicht den Apfel so zu Hermes, Paris und den Göttinnen empor (Abb. 4). Mit dieser Geste überspielt Klinger im Sinne des Gesamtkunstwerks beziehungsweise der „Raumkunst“ zugleich die Gattungsgrenzen zwischen Malerei, Skulptur und (Rahmen-)Architektur. Angelegt ist dies bereits bei Dionysos, dessen plastischer Kopf frontal ausgerichtet ist und so zum „Sockel“ für den gemalten Pfeiler mit der ebenfalls gemalten, „lebensecht“ kolorierten Büste einer Frau wird. Der wiederum plastisch geformte Kopf des Titanen auf der anderen Seite des Bildes hingegen sprengt die Rahmenarchitektur regelrecht. Über ihm ragt der (gemalte) Schwanz eines Ungeheuers empor, an den das schreckenerregende Haupt der Medusa – wer von ihrem Blick getroffen wurde, erstarrte zu Stein – gekettet und mit seinen Schlangenhaaren gebunden ist. Hinter dem Medusenhaupt befindet sich die geflügelte Figur von Amor (Abb. 5) – eine eindeutige Anspielung auf die Schattenseiten der Liebe wie auch auf den weiteren Verlauf des Mythos: Mit seiner Wahl löste Paris den Trojanischen Krieg aus. Aphrodite hatte ihm die schönste Frau der Welt versprochen, sollte sie den Wettstreit gewinnen. Die schönste Frau der Welt war Helena. Ihr Vater hatte den zahllosen Freiern, die um ihre Hand anhielten, den Eid abgenommen, Helenas Wahl, die auf den griechischen König Menelaos fiel, zu verteidigen. Als Paris Helena nun mit sich nahm, sahen sich die Griechen in der Pflicht und zogen in den Krieg gegen Troja. Das Ende ist bekannt: Troja fiel und Helena wurde von Menelaos heim nach Sparta geführt.

    „Antike“ hatte um 1900 Konjunktur. Gespannt verfolgte man seit den 1870er-Jahren die Ausgrabungen Heinrich Schliemanns in Troja. Diese förderten nicht nur spektakuläre Funde zutage, sondern auch eine neue Sicht auf die griechischen Mythen: Das legendäre, von Homer in der Ilias beschriebene Troja wurde zum realen Ort, der mythische Trojanische Krieg zu einer schon damals umstrittenen historischen Begebenheit. Hinzu kamen aktuelle Forschungen, insbesondere durch Johann Jakob Bachofen, der in griechischen Mythen unter anderem den Übergang vom Matriarchat zum Patriarchat verarbeitet sah. Mit seinem 1861 erstmals erschienenen Hauptwerk Das Mutterrecht stieß Bachofen die bis heute anhaltende Diskussion über Geschlecht, Sexualität und Macht an. Dies wie auch die Emanzipation der Frau im 19. Jahrhundert führten zu Verunsicherungen, von denen die zitierten Kritiken unterschwellig durchzogen sind. Nicht „weiblich“, anmutig oder mit sinnlich-üppigen Formen fasste Klinger die Göttinnen auf, sondern „männlich“, mit athletischen Körpern und mit beiden Füßen am Boden stehend. – Vor so viel selbstbewusster Weiblichkeit mussten Paris, Hermes und die Zeitgenossen einfach zurückschrecken.

    Trotz aller negativer Kritik, die sich um die Jahrhundertwende – jetzt auch unter deutschtümelnden Vorzeichen – ins Positive verkehrte; Klingers Urteil des Paris fand im Mäzen Alexander Hummel einen Käufer. Klinger und der hochgebildete, aus wohlhabendem Haus stammende Hummel hatten sich 1890 in Rom kennengelernt. Spätestens fünf Jahre später befand sich Klingers Urteil des Paris in Hummels Besitz, der es im August 1895 für eine Ausstellung nach Dresden verlieh,[9] wo es mit einer goldenen Medaille ausgezeichnet wurde. – Vergessen schien der Skandal, der 1887 den Ankauf des Bildes durch die Gemäldegalerie in ebenjener Stadt verhindert hatte. Ende des Jahres ließ Hummel es unter Klingers Aufsicht in seiner Villa Eirene in Triest aufstellen. Um es zu voller Wirkung kommen zu lassen, wurden in den Raum keine weiteren Bilder gehängt. Begeistert äußerte sich Hummel in seinen Briefen, schrieb angesichts des Urteils des Paris von einer „Vision“, aber auch dass es von Frauen aufrichtiger bewundert wurde als von Männern. Letztere standen dem Bild zumeist „absolut fremd und verständnißlos“ gegenüber.[10] Doch Hummel wollte mehr, wünschte Das Urteil des Paris in einer öffentlichen Sammlung zu sehen. Sein Blick fiel auf die in Gründung begriffene Moderne Galerie in Wien, die heutige Österreichische Galerie Belvedere. Für den geplanten Museumsneubau schlug Hummel einen Klinger gewidmeten Raum vor, für den er Das Urteil des Paris mit der Auflage stiften wollte, dass die Galerie Klingers Kreuzigung Christi und Christus im Olymp ankaufe. Hummels hochtrabende Pläne zerschlugen sich. Zwar stiftete er 1901 Das Urteil des Paris, das im März 1903 in Gegenwart von Klinger in Triest abgebaut und nach Wien verschickt wurde (Abb. 6); auch wurde Christus im Olymp 1901 für die Moderne Galerie erworben (Abb. 7), doch unterblieb der Ankauf der Kreuzigung Christi (Museum der bildenden Künste Leipzig) ebenso wie der Neubau eines Museums. Obwohl seine Stiftungsidee damit unterlaufen wurde, erklärte Hummel sich im März 1903 mit der „provisorischen“ Aufstellung der Bilder im Unteren Belvedere einverstanden,[11] sodass bei Eröffnung des ersten Museums für zeitgenössische Kunst in Wien Das Urteil des Paris im ehemaligen Paradeschlafzimmer des Prinzen Eugen (Abb. 8) und Christus im Olymp im Marmorsaal (Abb. 9) des Schlosses zu sehen war. Enthusiastisch schrieb der Kunstkritiker und Wegbereiter der Wiener Secession Ludwig Hevesi im Juni 1903: ‘Das ‘Urteil des Paris‘ ist für Wien die grosse Novität der modernen Galerie. Die ungeteilte Bewunderung, die es findet, lässt erkennen, wie gründlich der Erdball sich gedreht hat, seitdem, vor fünfzehn Jahren, die öffentliche Meinung Dresdens die Erwerbung dieses Bildes für die dortige Galerie vereitelte.“[12]

     

    Anmerkungen

    59. Ausstellung der Kgl. Akademie der Künste im Landes-Ausstellungsgebäude zu Berlin vom 31. Juli bis Mitte October 1887, 2. Aufl., Berlin 1887, S. 90, Kat.-Nr. 470 mit Abb. (Detail: „Hera“).

    Die Gegenwart, Nr. 32, 1887, S. 111.

    Kladderadatsch, Nr. 38, 21.8.1887, S. 152.

    William Adolphe Bouguereau, La naissance de Vénus, 1879, Öl auf Leinwand, 300 × 215 cm, Musée d’Orsay, Paris; vgl. https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Die_Geburt_der_Venus_(Bouguereau)&oldid=211774285 (zuletzt besucht am 22.7.2021).

    Die Statue des Bildhauers Polyklet aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. selbst ist verloren, doch sind mehrere Kopien aus römischer Zeit überliefert; vgl. https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Doryphoros&oldid=180629195 (zuletzt besucht am 22.7.2021).

    Vgl. etwa Charles-Auguste Arnaud, Vénus aux cheveux d’or, 1863, Marmor, Höhe: 210 cm, Musée national du Château, Compiègne; vgl. https://art.rmngp.fr/fr/library/artworks/charles-auguste-arnaud_venus-aux-cheveux-d-or_marbre-blanc_sculpte (zuletzt besucht am 22.7.2021).

    A. Kornfeld, „Spaziergänge durch die Moderne Galerie“, in: Das Wissen für alle. Volksthümliche Vorträge und populär wissenschaftliche Rundschau, 3. Jg., 1903, Teil 11, S. 618–621, hier S. 619.

    So in Bouguereaus bereits erwähntem Gemälde und in der wohl berühmtesten Darstellung der Szene, Sandro Botticellis Geburt der Venus von 1485/86 (Uffizien, Florenz); vgl. https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Die_Geburt_der_Venus_(Botticelli)&oldid=212416452 (zuletzt besucht am 23.7.2021).

    Akademische Kunstausstellung Dresden, 1895, S. 10, Kat.-Nr. 109 mit Abb.

    Zit. nach Max Lehrs, „Alexander Hummel und Max Klinger“, in: Zeitschrift für bildende Kunst, N. F., 26. Jg., 1914, S. 29–52, S. 34f. (Auszug aus einem Brief von Alexander Hummel an Max Lehrs).

    Schenkungsvertrag zwischen Alexander Hummel und dem k. k. österreichischen Ministerium für Kultus und Unterricht, Wien, 10.3.1903 (Abschrift), Archiv des Belvedere, Wien.


    Abbildungen