Seit 1935 war der aus Wien stammende und seit 1930 in Paris lebende Künstler Wolfgang Paalen Mitglied der berühmten, von André Breton angeführten Gruppe von Surrealisten, der unter anderem Max Ernst, Alberto Giacometti und Yves Tanguy angehörten. Paalens wichtigster Beitrag zum Surrealismus waren die sogenannten Fumagen, Gemälde und Papierarbeiten, in denen Kerzenrauch als wesentliches Gestaltungsmittel Verwendung fand.

Daneben schuf Paalen immer wieder auch höchst originelle Kunstobjekte, die oft Teil der Inszenierungen von spektakulären Galerieausstellungen waren. Eines dieser Objekte ist „Nuage articulé“, ein ungemein fragil wirkender, mit Naturschwämmen bedeckter aufgespannter Regenschirm. Das Wortspiel des Objekttitels, zu Deutsch etwa „ausformulierte Wolke“, verweist auf den Anachronismus, der in der Gestaltung und Positionierung des Schirms – Paalen präsentierte den Schirm an einem Faden von der Decke hängend – offenkundig wird. Das Objekt reiht sich damit in die Tradition des Surrealismus für die Lust an Funktions- und Bedeutungsumkehr von Alltagsgegenständen, wobei Paalen auch auf Anregungen des deutschen Physikers Georg Christoph Lichtenberg zurückgreift, dessen im späten 18. Jahrhundert verfassten ironisch-bizarren Aphorismen Paalen für Breton ins Französische übersetzte. Wie offen die Interpretation von „Nuage articulé“ war, zeigt etwa der Kommentar im London Bulletin vom Februar 1939, worin Paalens Schirm mit dem damals berühmten Schirm des britischen Premierministers Neville Chamberlain und dessen verfehlter Appeasement-Politik gegenüber Hitler-Deutschland in Verbindung gebracht wurde.

Einen spektakulären Auftritt fand „Nuage articulé“ in der von Paalen gemeinsam mit Marcel Duchamp, Man Ray und Salvador Dalí gestalteten Exposition internationale du Surréalisme, die 1938 in der Pariser Galerie Beaux-Arts stattfand und die mit bizarren Interieurs und Requisiten ausgestattetet war. Erstaunlicherweise blieb der Schirm unversehrt erhalten und befindet sich heute im Museum für Moderne Kunst in Stockholm. Wenig später schuf Paalen eine zweite, identische Version der „Nuage articulé“, und zwar aus Anlass der Anfang 1940 in der Galería de Arte Mexicano in Mexiko-Stadt stattfindenden Surrealismusausstellung, die Paalen gleichfalls federführend mitgestaltete. Auch dieser Schirm blieb erhalten und wird seit November 2020 dem Belvedere als Dauerleihgabe aus Privatbesitz zur Verfügung gestellt.

Literatur: Andreas Neufert: Wolfgang Paalen. Im Inneren des Wals, Wien, New York 1999, S. 109, S. 299: Vgl. WV-Nr. 37.27 (Kritischer Katalog der Ölgemälde, Skulpturen und Objekte 1920–1959); Andreas Neufert: Auf Liebe und Tod. Das Leben des Surrealisten Wolfgang Paalen, Berlin 2015, S. 301–305

[Franz Smola 11/2020]