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Die vierzigste menschliche Situation: Eine Pariserin sein!

Curt Stenvert, Die Vierzigste Menschliche Situation: Eine Pariserin sein!, 1964, Collagierte Sc ...
Die vierzigste menschliche Situation: Eine Pariserin sein!
Curt Stenvert, Die Vierzigste Menschliche Situation: Eine Pariserin sein!, 1964, Collagierte Sc ...
Curt Stenvert, Die Vierzigste Menschliche Situation: Eine Pariserin sein!, 1964, Collagierte Schaufensterpuppe, Plastikblumen, Spielzeugautos, Holz, verschiedene Materialien, 192,4 x 97,6 x 73 cm, Belvedere, Wien, Inv.-Nr. 9977
© Bildrecht, Wien 2024
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  • Datierung1964
  • Künstler*in (1920 Wien – 1992 Köln)
  • ObjektartAssemblage
  • Material/TechnikCollagierte Schaufensterpuppe, Plastikblumen, Spielzeugautos, Holz, verschiedene Materialien
  • Maße
    192,4 × 97,6 × 73 cm
  • SignaturBetitelt linke Kastentür außen, oben: QUATRA | NTIÉM | E | SITUAT | ION | HUMA | INE:; rechte Kastentüre innen: ETRE | UNE | PARISI | ENNE!; bez. rechte Kastentür innen, oben: MODE D'EMPLOI | ON PEUT EVAP | ORISER LE PAR | FUM PREFERE D | E MONSIEUR OU | DE MADAME DAN | S LA BOITE – CA | R CECI EST UNE | OEUVRE D'ART | FONCTIONNELLE!; nummeriert auf einem Metallplättchen auf dem rechten Seitenteil außen, oben vorn: 199
  • Inventarnummer9977
  • Standort Derzeit nicht ausgestellt
  • Inventarzugang2011 Ankauf Privatbesitz, Frankreich
  • In einem Holzkasten steht eine Schaufensterpuppe – lebensgroß und mit Pariser Stadtansichten beklebt. Kunstblumen, Spielzeugautos und Plastikfrösche befinden sich zu ihren Füßen. Das Thema dieser Assemblage ist die völlige Vereinnahmung der Menschen durch das künstliche Konstrukt eines städtischen Gefüges. Was macht eine Stadt mit uns? Wie wird die menschliche Wahrnehmung durch tägliche Informationen und Eindrücke manipuliert oder gar verfälscht? Der Wiener Curt Stenvert, in seiner Heimat verkannt, erlangte insbesondere mit seiner Objektkunst internationale Aufmerksamkeit. Ab den 1960er-Jahren widmete er sich einer ganzen Reihe Menschlicher Situationen, die zum Nachdenken und Umdenken anregen sollten.

  • Curt Stenverts Menschliche Situationen. Ein sozial- und gesellschaftskritischer Beitrag der „Funktionellen Kunst des 21. Jahrhunderts“
    Kerstin Jesse ORCID logo

    Ein fast zwei Meter hoher, beidseitig mit Doppeltüren zu öffnender Kasten aus Holz birgt im Inneren eine Schaufensterpuppe. Die Innenseiten des Kastens und der Türen sind mit dünnen hellblauen Kunststoffplatten ausgekleidet. Die Figur ist, bis auf die Hände, vorwiegend mit Pariser Ansichten beklebt: Tagesaufnahmen dominieren Oberkörper und Gesäß, nächtliche Stadtszenen die Beine, florale Motive Hals und Gesicht. Die Aufnahmen zeigen meist Ausschnitte historisch markanter Bauten wie des Arc de Triomphe. Auf dem Boden zu Füßen der Schaufensterpuppe befinden sich Plastikblumen (Goldregen und Veilchen); zwischen diesen tummeln sich Spielzeugautos und kleine Plastikfrösche. Betitelt ist das 1964 entstandene Kunstwerk in französischer Sprache mit Die vierzigste menschliche Situation: Eine Pariserin sein!. Eine Art „Gebrauchsanweisung“ wurde auf der Innenseite der linken Tür beigefügt: „Sie können den Kasten mit dem Parfüm ihrer Wahl versehen – denn dies ist ein funktionelles Kunstwerk!“

    Wie ist diese Arbeit des Wiener Künstlers Curt Stenvert zu verstehen, was wollte er mit seiner zukunftsorientierten Funktionellen Kunst vermitteln? Stenverts Zugang zur Kunst bildet bei der Auseinandersetzung mit seinem Werk eine wichtige Grundlage und verhilft zu einem besseren Verständnis seiner dreidimensionalen Objektcollagen, zu denen die vorliegende Arbeit gehört.


    Die „Funktionelle Kunst des 21. Jahrhunderts“

    Curt Stenvert (Abb. 1) schuf ab 1962 vorwiegend dreidimensionale Objekte und Assemblagen mit aufrüttelnden, teils bissigen, teils mahnenden, meist kritischen Inhalten. Schockierende Momente kamen dabei ebenso gezielt zum Einsatz wie Sarkasmus und ein gewisser Humor. Kunst musste für Stenvert, wie sich im Laufe seines Schaffens mehr und mehr manifestierte, in der Gesellschaft einen festen Platz und a priori eine Funktion haben.

    Bereits seine ab 1947 akribisch konstruierten Objekte aus Aluminium und Plexiglas zielten auf Mehransichtig- und Gleichzeitigkeit ab und sollten den „Vorstellungsbereich des Menschen […] erweitern“[1]. Aus dem Wunsch heraus, „bleibende geistige Werte“ zu schaffen, die im Vergleich zum Film, dem sich Stenvert elf Jahre lang gewidmet hatte, nicht der örtlichen und zeitlichen Vergänglichkeit unterliegen, drängte es ihn zur Objektkunst. Der Umgang mit Requisiten, „geplant“ eingesetzten Dingen, im Film war ein wichtiger Impulsgeber für seine Assemblagen, denn diese müssen zu einer bestimmten Zeit in einer ganz bestimmten Szene „eine ganz bestimmte Aussage machen […] und ihre (stumme) Sprache sprechen […]“, so Stenvert.[2]

    Sein Kunstanspruch war es, nichts Geringeres als einen „Beitrag zur Freiheit des Menschen zu leisten“[3]. Daraus entwickelte er die „Funktionelle Kunst des 21. Jahrhunderts“, die er 1965 in einem Manifest in Form einer Ölcollage festhielt (Abb. 2) : „[…] interessenmittelpunkt […] ist die EXISTENZ DES MENSCHEN!!! | FüR IHN BEGINNT DER MEnSCH | JenseiTs DeR HAUT … | die funktionelle kunst des 21. jahrhun | derts | soll dEm mEnschEn diE BIOLOGISCHEN, PSYCHOLOGISCHEN, SOZIOLOGISCHEN UND | PHILOSOPHISCHEN VORAUSSETZUNGEN SEINER EXISTENZ BEWUSST WERDEN LASSEN: | … DAS IST DIE LEBENSFÖRDERNDE URFUNKTION | DER KUNST | FUNKTIONELLE KUNST IST REVOLUTION! | FREIHEIT DURCH EXISTENZERHELLUNG ÜBER DAS AUGE!“

    Stenvert wollte, als kritischer Beobachter und forschender Künstler, aktuelle soziale, gesellschaftliche und globale Probleme aufzeigen und die Betrachterinnen und Betrachter zum Nach- und Umdenken anregen. Der Bedrohung des Menschen durch sich selbst – in Folge von Kriegen und gewalttätigen Auseinandersetzungen, Umweltverschmutzung, Technologisierung, Entfremdung und Vorurteilen – galt es entgegenzuwirken. Die „Erhellung“ beziehungsweise der Erkenntnisgewinn erfolgt über den Sehsinn und soll im besten Fall zur Befreiung von vorgefassten Normen, gesellschaftlichen Zwängen und Tabus führen; zu einem Bewusstwerden des Menschseins, des menschlichen Daseins und schlussendlich zu einem Gewinn von Freiheit und Lebenssinn für die Einzelne, den Einzelnen.

    Wesentliche Anregungen für seine gesellschaftskritische Arbeit fand Stenvert bei den Dadaisten,[4] die bereits traditionelle Kunstformen ad absurdum geführt und gegen die Ideale, Normen und Wertesysteme der damaligen Gesellschaft gewettert hatten.


    Kunst für den Menschen

    Dem am Beginn der Zwischenkriegszeit geborenen Stenvert boten das Erleben des Zweiten Weltkrieges ebenso wie die schwierigen Jahre des Wiederaufbaus unter den Besatzungsmächten, der anschließende Kalte Krieg, die Unruhen und Revolutionen der 1960er-Jahre sowie die zunehmende Technologisierung und die damit einhergehende Belastung der Umwelt genügend Stoff zur Auseinandersetzung. Rückblickend schrieb Stenvert: „Meine ‘Funktionelle Kunst‘, die Objektkunst der 60-er Jahre war gesellschaftskritisch, sozialkritisch; war offensiv, aggressiv, provokativ. Es ging darum, aufzuwecken, wachzurütteln, durchzuschütteln, zu provozieren. ‘Den Tod atmen müssen‘ – Umweltverschmutzung. ‘An die friedliche Ko-Existenz glauben‘ – ‘Kalter Krieg‘. ‘Ermordet Tyrannen rechtzeitig‘ – die Diktaturen immer noch an der Macht. ‘Fördert die schöpferische Phantasie‘ – die Probleme der ‘Zweiten Industriellen Revolution‘, Computer, ‘Menschenarme für die Automation‘ – Maschinen von Automaten gesteuert, der Mensch im ‘Out‘.“[5]

    Stenvert wollte den Menschen aus diesem „Out“, in das er sich selbstverschuldet hineinkatapultiert hatte, wieder herausholen; er wollte einen Umdenkprozess in Gang setzen. „Funktionelle Kunst kann mit-helfen, [die] Welt zu verändern. Mit-Wirken. Mit-Be-Wirken.“[6] „Die Kunst ist für mich – nüchtern gesehen, unromantisch – ein Instrument, das den Menschen frei machen soll!“, so der Künstler; „Für mich gilt nicht: ‘Kunst der Kunst wegen!‘ Für mich gilt: ‘Kunst des Menschen wegen!‘ Für mich gilt nicht: ‘Es lebe die Kunst!‘ Für mich gilt: ‘Es lebe der Mensch! Frei!‘“[7] Frei von „unzeitgemäßer Ethik“, „manipulierten Informationen“ und sämtlichem „Zivilisationsmüll“, der die „natürlichen Instinkte des Menschen“ verschüttet.[8]

    Stenverts Kunst ist ganz und gar auf den Menschen – „jenseits aller Staatszugehörigkeiten, […] Klassen, Ränge, Stände, […] Parteien, Rassenmerkmale und Religionen“ – ausgerichtet.[9] Daher beginnt der Mensch für ihn jenseits der Haut.


    Die Reihe der Menschlichen Situationen

    In den 1960er- und 1970er-Jahren entstanden zahlreiche Objekte, die Stenvert mit Opusnummern versah. Aus unterschiedlichen Materialien und Gegenständen schuf er kleine und größere Dingwelten, „die einen äußerst weiten und mannigfachen Bogen geistiger Konfrontations- und Kombinationsmöglichkeiten umspannen“[10]. In ausgesprochen kreativen wie eindringlichen Arbeiten setzte er seine an die Menschheit gerichteten Gedanken, Appelle, Stellungnahmen und Proteste um, indem er die Dinge „ihrer eigentlichen Funktion beraubt[e]“[11] und ihnen durch Veränderungen und ungewöhnliche Konfrontationen eine neue gab. Auswahl und Kombination erfolgten meist intuitiv und nicht auf „‘intellektueller‘ Basis“[12]. Handwerklich wie technisch setzte der Künstler dabei auf Perfektion.

    Der Titel der jeweiligen Arbeit gibt die Denkrichtung vor: „Durch das Lesen des Titels soll beim Betrachter der ‘Funke‘ zünden“, so Stenvert.[13] In den 1960er-Jahren betitelte Stenvert die Objekte häufig in französischer Sprache, obwohl er selbst kein Französisch sprach. Der Anfang der 1960er-Jahre in Paris begründete Nouveau Réalisme rund um den Kunstkritiker und -philosophen Pierre Restany war für Stenvert mit Sicherheit prägend. Hier, in Paris, hatte das Readymade mit Duchamp seinen Ausgangspunkt genommen, und hier, in Paris, versuchten nun Künstlerinnen und Künstler erneut die traditionellen Grenzen der bildenden Kunst aufzubrechen und banale Realitäten, (Abfall-)Produkte der Gesellschaft in ihre künstlerischen Objekte zu integrieren. Das Leben sollte Einzug in die Kunst finden – und umgekehrt.

    1967 lernten sich Stenvert und Restany im Rahmen der internationalen Ausstellung Animation, recherche, confrontation. Le monde en question in Paris kennen (Abb. 3).[14] In dieser präsentierte Stenvert erstmals seine aufrüttelnde dreiteilige Installation Stalingrad – oder: Die Rentabilitätsberechnung eines Tyrannenmordes (1964–67).[15] Restany verfasste kurze Zeit später einen Artikel über Stenverts funktionelle Objektkunst.[16] Der Bezug zu Paris, der „Keimzelle“ moderner Objektkunst, Stenverts frühe Aufenthalte in der Stadt wie die Internationalität der französischen Sprache waren wohl ausschlaggebend für die Vergabe fremdsprachiger Titel.

    Einzelne Objekte aus Stenverts Œuvre stehen miteinander in Beziehung und bilden Reihen oder Zyklen. Ab 1963 begann Stenvert, die umfassende Gruppe der Menschlichen Situationen zu kreieren. Bis 1977 entstanden insgesamt 47 Objekte der Situations humaines. Die Sammlung des Belvedere beherbergt 34 Werke des Künstlers (Stand Februar 2021), davon sind zehn Dauerleihgaben aus der Artothek des Bundes sowie aus Privatbesitz. Neben der Vierzigsten menschlichen Situation befinden sich drei weitere zu dieser Gruppe gehörende Arbeiten in der Österreichischen Galerie: die Neunte, die Fünfundzwanzigste und die Sechsunddreißigste (Abb. 4) (Abb. 5) (Abb. 6). Fast alle Werke dieser Reihe sind in verschließbaren Holzkästen untergebracht (Abb. 7).

    Die ausgewählten Themen umfassen soziale, geschlechtsspezifische, religiöse, kulturelle, gesellschaftliche und politische Aspekte: An die friedliche Koexistenz glauben (Dritte), Vergeblich Rudern (Zwölfte), Für andere eine Melkkuh sein (Sechzehnte), Statt einer Frau einen Milchwagen im Bett finden (Fünfundzwanzigste), Manipuliert werden (Achtundzwanzigste), Als Intellektueller ein Wörterbuch für Analphabeten besitzen (Dreiunddreißigste), In einer engen Gasse vor der Polizei fahren … oder: Die Zeitgenössische, die sogenannte Moderne Kunst im Entwicklungsstadium: „Experimente ohne bewusstes Ziel!“ (Fünfunddreißigste) und so weiter. Die Endlichkeit des Menschseins und wohl auch die begrenzte Wirkung eines handlungsveränderten Kunstanspruches manifestieren sich 1964 in der Ersten und letzten menschlichen Situation: In einem Behälter liegen! – respektive Geburt und Tod – wie vor allem in der Sechsundvierzigsten menschlichen Situation: Meine (Situation) – d. h. die des Curt Stenvert (1966):[17] Kämpferisch präsentiert sich der Künstler in Form eines behelmten, ernst blickenden fotografischen Konterfeis. Dessen Platzierung in einem geschlossenen Vogelkäfig scheint gleichzeitig auf vorhandene Grenzen – innere oder äußere – anzuspielen. Wirklich frei sein sieht anders aus!

    Stenverts Pariserin hat ebenfalls ein gewisses Maß an Freiheit eingebüßt. Fast unsichtbare Nylonfäden, deren Aufgabe es ist, die Schaufensterpuppe im Kasten zu fixieren, scheinen den ungewollten Nebeneffekt zu haben, deren Bewegungsfreiheit einzuschränken; lassen sie ein wenig marionettenhaft wirken. Zudem wird das Kunstwerk in einem versperrbaren Holzkasten präsentiert; das Schließen und Verriegeln der Türen ist jederzeit möglich.

    Im Rahmen der monografischen Ausstellung im Wilhelm-Lehmbruck-Museum in Duisburg 1979 versah Stenvert einzelne Objekte mit kurzen Statements. Zur Pariserin fügte er hinzu: „Das ‘Durchdrungensein von‘, das ‘Tätowiert sein mit‘, die ‘Identifikation des Menschen mit‘ der Stadt.“[18] Dieses Durchdrungen- und Tätowiertsein meint ein unter die Haut gehendes Moment: Fast der ganze Körper respektive die „Haut“-Oberfläche der Figur ist mit Stadtmotiven zugeklebt. Somit ist die Pariserin, dargestellt durch ein idealisiertes Mannequin, von allem, was eine Stadt bedeutet und impliziert, ganz und gar vereinnahmt: Lebendigkeit, Mobilität, Tempo, Konsum, Vergnügen, Kultur, Anonymität, Masse, Informationsflut, Verbauung und so weiter. Einerseits kann die Identifikation mit einer Stadt oder einem Ort positiv gewertet werden: Man fühlt sich zugehörig, ist Teil davon, kann sich mit dem Leben, den geschaffenen Einrichtungen und der Kultur vor Ort identifizieren. Andererseits muss hinterfragt werden, wie sehr alles, was eine Stadt ihren Einwohnerinnen und Einwohnern bietet, deren Einstellungen und Ansichten prägt und beeinflusst, vielleicht auch manipuliert. Es stellt sich die Frage nach der Ab- und Begrenzung des Individuums innerhalb des städtischen Gefüges.

    Die Stadt als künstliches Konstrukt entfernt den Menschen von seiner ursprünglichen natürlichen Umgebung; viele Ablenkungen und die tägliche Flut von Informationen und Eindrücken rücken wesentliche Dinge des Lebens aus dem Fokus. Gerade Paris, die Stadt der Liebe, der Kunst, der Haute Couture, des guten Essens, des Luxus, bietet viel Ablenkungspotenzial – zumindest für jene Bewohnerinnen und Bewohner, die es sich leisten können. Die Aufforderung zum Versprühen des Luxusartikels Parfüm erlaubt die Überdeckung anderer, ursprünglicher wie auch unangenehmer Gerüche. Wie Stenvert wiederholt betonte, werden die „natürlichen Instinkte des Menschen“ durch falsche Vorstellungen, manipulierte Informationen und „Zivilisationsmüll“ verschüttet.[19] Die Sicht auf die Dinge wird mitunter verfälscht, gelenkt und eingeschränkt. Die Pariserin lässt uns unter anderem über die völlige Vereinnahmung des Menschen durch das Städtische, durch das, was eine Stadt mit uns macht – auch wenn man sich mit ihr im positiven Sinne identifiziert –, nachdenken.

    1964 warb Stenvert für die Präsentation seiner Menschlichen Situationen in Deutschland.[20] In Wien war er mit seinen unkonventionellen Kunstobjekten immer wieder aufgefallen; der große künstlerische Erfolg blieb ihm aber in seiner traditionsverbundenen Heimatstadt verwehrt. Noch 1975 merkte der damalige Direktor der Österreichischen Galerie Belvedere Hans Aurenhammer an, dass in Österreich „die Auseinandersetzung mit seiner Kunst eher zögernd vor sich [ging]“, und organisierte eine monografische Schau im Oberen Schloss mit 48 Arbeiten; darunter die Pariserin.[21] Seinen internationalen Durchbruch feierte der Künstler im Ausland: Im österreichischen Pavillon der XXXIII. Biennale in Venedig 1966, der von Alfred Schmeller kuratiert wurde,[22] präsentierte er über fünfzig Objekte, darunter 17 Menschliche Situationen.[23]

    Die progressiven Künstlerinnen und Künstler von heute haben sich mit der Gesellschaft auseinanderzusetzen, wollen aufzeigen, bewegen und verändern, so Stenvert.[24] Ein hoher Anspruch an Kunst, an Künstlerinnen und Künstler und selbst für Stenvert eine Frage der Machbarkeit: „Vielleicht ist das alles [durch Kunst Verhalten analysieren und steuern zu wollen] eine Utopie?!“[25]

    Trotz alledem sind seine „Bedeutungs-Akkumulationen“ eindringlich, fesselnd, erschütternd, schockierend, manchmal verwirrend und ernüchternd.[26] Sie regen zur Reflexion an und haben damals wie heute nichts von ihrer gesellschaftspolitisch erhellenden Aktualität verloren – denn „Wir haben die Probleme des Zusammenlebens der Menschen nicht gelöst“[27]; nach wie vor nicht.

     

    Anmerkungen

    Harald Kutschera, „Die vierte Dimension“, in: Radio Wien, Heft 39, 1948. – Vgl. Kerstin Jesse, „Mit Curt Stenvert Neuland betreten. Frühe Schaffensjahre und der Violinspieler in vier Bewegungsphasen“, in: Agnes Husslein-Arco / Harald Krejci (Hg.), Curt Stenvert – Neodadapop (Ausst.-Kat. Belvedere, Wien), Wien 2011, S. 42–55.

    Curt Stenvert, „Die Sprache der Dinge“, in: Curt Stenvert. Objekte 1962–1974 (Ausst.-Kat. Belvedere, Wien), Wien 1975, S. 6.

    Curt Stenvert, „Autobiographie“, in: ders., Die Funktionelle Kunst des 21. Jahrhunderts oder Die Programmierung der Erkenntnis- und Erlebnisprozesse, München 1968, S. 12.

    Curt Stenvert, Theoretische und polemische Schriften zur funktionellen Kunst des 21. Jahrhunderts, Bd. 1, Köln 1989, S. 13.

    Curt Stenvert, Gedanken im Zusammenhang mit der Fertigstellung des Großobjekts „Harlekins Arche des Humors“ (Manuskript), 15.8.1988, Wienbibliothek im Rathaus, Handschriftensammlung, Nachlass Curt Stenvert, ZPH_709, Bl.-Nr. 7.

    Stenvert 1988 (wie Anm. 5), Bl.-Nr. 6.

    Curt Stenvert, „Autobiographische Notiz“, in: Curt Stenvert. Menschliche Situationen. Die Funktionelle Kunst des 21. Jahrhunderts (Ausst.-Kat. Städtische Galerie Schloss Oberhausen), Recklinghausen 1971, o. S.

    Curt Stenvert, „Die Partei des Menschen und die Funktionelle Kunst des 21. Jahrhunderts“, in: Stenvert 1989 (wie Anm. 4), S. 62.

    Stenvert 1989 (wie Anm. 8), S. 58.

    Peter Baum, „Ein sehr kritischer Betrachter unserer Umwelt. Kurt Steinwendner zeigt Montagen im Wiener Künstlerhaus“, in: Oberösterreichische Nachrichten, 29.6.1963.

    Baum 1963 (wie Anm. 10).

    Stenvert 1975 (wie Anm. 2), S. 8.

    Stenvert 1975 (wie Anm. 2), S. 7.

    Siehe Stenvert 1968 (wie Anm. 3), S. 15.

    Heeresgeschichtliches Museum, Wien, Inv.-Nr. 1996/20/78.

    Pierre Restany, „Die grosse Ablehnung Curt Stenvert“, in: Kunst, 16. Jg., Nr. 2, Oktober 1969, Specialnummer om Curt Stenvert, S. 45–47.

    Kunsthalle Mannheim, Inv.-Nr. S1941. – Curt Stenvert. Objekte 1962–1974 (Ausst.-Kat. Belvedere, Wien), Wien 1975, o. S., Taf. 12.

    Curt Stenvert. Die funktionelle Kunst des 21. Jahrhunderts (Ausst.-Kat. Wilhelm-Lehmbruck-Museum, Duisburg), Duisburg 1979, S. 43.

    Stenvert 1989 (wie Anm. 4), S. 62.

    Stenvert 1989 (wie Anm. 4), S. 12–14.

    Curt Stenvert 1975 (wie Anm. 17), S. 18, Kat.-Nr. 16.

    Vgl. Peter Baum, „Curt Stenverts Erfolg im In- und Ausland“, in: Oberösterreichische Nachrichten, 26.4.1967.

    Ebenfalls ausgestellt war die Vierzigste menschliche Situation.

    Curt Stenvert, „Der Holzwurm und die Funktionelle Kunst des 21. Jahrhunderts“, in: Stenvert 1989 (wie Anm. 4), S. 26.

    Stenvert 1989 (wie Anm. 8), S. 59. – Dazu: Stenvert 1975 (wie Anm. 2), S. 7f.

    Stenvert 1975 (wie Anm. 2), S. 7.

    Curt Stenvert, „Offener Brief an die Elite!“, in: Curt Stenvert 1979 (wie Anm. 18), S. 6.


    Abbildungen