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Apollo, die Pestpfeile aussendend

Alexander Rothaug, Apollo, die Pestpfeile aussendend, um 1920, Öl auf Leinwand, 185 x 236 cm, B ...
Apollo, die Pestpfeile aussendend
Alexander Rothaug, Apollo, die Pestpfeile aussendend, um 1920, Öl auf Leinwand, 185 x 236 cm, Belvedere, Wien, Inv.-Nr. 4048
Dieses Werk ist Teil der Open Content Policy des Belvedere, ist zum Download freigegeben und frei von Urheberrechten Creative Commons Lizenzvertrag

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  • Datierungum 1920
  • Künstler*in (1870 Wien – 1946 Wien)
  • ObjektartGemälde
  • Material/TechnikÖl auf Leinwand
  • Maße
    185 × 236 cm
  • SignaturSign. rechts unten: ALEXANDER ROTHAUG
  • Inventarnummer4048
  • Standort Derzeit nicht ausgestellt
  • Inventarzugang1947 Legat aus Nachlass des Künstlers, Wien, über Leopold Rothaug
  • Seine Metiers sind die antike Mythologie und die Welt der deutschen Sagen. Hier modelliert Rothaug das Idealbild eines Übermenschen in Farbe. Bildgewaltig und an Pathos kaum zu überbieten erstreckt sich der muskulöse Körper vom unteren bis zum oberen Rand des Gemäldes. Es ist Apollon, der als rächender Sonnengott die Griechen während des Trojanischen Kriegs mit seinen Pestpfeilen erbarmungslos ins Verderben stürzt. Kurz nach dem Ersten Weltkrieg entstanden, spielt die Szene sicher nicht zufällig auf die Spanische Grippe an. Seit 1918 hatte sich die Pandemie rasant ausgebreitet und Millionen Menschenleben gekostet. Die Darstellung wird so zum Sinnbild für eine durch Leid und Zorn geprägte Epoche.

  • Pathos des Apollon. Eine bildanthropologische Analyse des Werks Apollo, die Pestpfeile aussendend (um 1920) von Alexander Rothaug
    Miroslav Hal'ák ORCID logo

    PDF

    Wenn in der Zeit des deutschen Nationalsozialismus ein künstlerisches Schaffen als „zutiefst deutsch“[1] zelebriert wurde, kompromittiert dies nicht nur die Künstlerin, den Künstler selbst, sondern auch ihr/sein Werk. In einem Zeitungsartikel aus den Flensburger Nachrichten vom 3. August 1938 wittert der regimetreue Journalist Günter Herbst eine Möglichkeit, die jüdische Bevölkerung zu diffamieren, indem er sich darüber beschwert, dass der „schaffenskräftige“ Maler Alexander Rothaug „jahrelang durch die Machenschaften des jüdischen Kunsthandels in Wien kein Bild verkaufen konnte […]“[2].

    Wie sollen die Disziplin der Kunstgeschichte und ihre kunsttheoretischen Ansätze mit kontroversen Positionen umgehen? Bagatellisieren oder beschönigende Alibi konstruieren ist angesichts solcher Texte unhaltbar. Jeder Beleg einer sympathisierenden Gegenüberstellung zu dieser unakzeptablen Ideologie wirkt kompromittierend und kontaminierend. Sogar scheinbar unantastbare Positionen expressionistischer Kunst, die im Dritten Reich noch als „entartet“ galten, werden anhand belastenden Beweismaterials nun kritisch revidiert.[3]

    Die Monumentalität antiker Mythen und alteuropäischer Fabeln bestimmt das Œuvre Alexander Rothaugs entscheidend. Es waren gerade idealisierte Heldenmodelle, die Rothaugs Bilder für Propagandazwecke leicht instrumentalisierbar machten. Im spätsymbolistischen Stil entwickelte er eine eigene anatomische Formensprache, die er im Heft Statik und Dynamik des menschlichen Körpers (1933) auch theoretisch zusammenfasste. Im Bild aus dem Jahr 1920 kann explizit von einem arischen Kunstideal noch keine Rede sein. Andererseits bediente sich später die offizielle Kunst des Dritten Reiches sehr wohl einer mobilisierenden visuellen Sprache. Aus dem Diapason der künstlerischen Ausdrucksmittel und Stile wurden mimetisch gegenständliche und symbolische Positionen herausgegriffen. Ziel war, die erwünschten Normative vom Schönen und Richtigen auf leicht verständliche Art zu verbreiten und so mittels Kunst die breite Gesellschaft zu indoktrinieren.


    Das Werk in der Sammlung und sein mythologisches Vorbild

    Das Bild Apollo, die Pestpfeile aussendend gelangte nach dem Tod Alexander Rothaugs im Zuge der Nachlassverwaltung im Jahr 1946 in die Sammlung des Belvedere. Dem Testament des Künstlers zufolge sollten alle Werke, die bis zu seinem Todestag noch nicht verkauft worden waren, auf Museen und Galerien aufgeteilt werden. Bereits im März 1946 einigte sich der Bruder des Künstlers, Leopold Rothaug, der den Nachlass betreute, mit der Österreichischen Galerie Belvedere auf eine Schenkung von acht Bildern (Abb. 1).

    Die großformatige Leinwand stellt ein Sujet aus der homerischen Mythologie dar. Die Komposition des Bildes wird um den römisch-griechischen Gott Apollon aufgebaut. Der Sohn von Zeus und der Titanentochter Leto wird als „Inbegriff des Hellenentums“ und als Garant „der sittlichen Ordnung und des edlen Maßes überhaupt“ angesehen.[4] Die Szene, in der Apollon mit Pfeilen auf die Menschen schießt, bezieht sich auf den ersten Gesang der homerischen Ilias, Verse 30 und 70, wo der trojanische Priester Chryses den „leuchtenden Apollon“ um Gerechtigkeit bittet, weil der Griechenkönig Agamemnon seine Tochter entführt hat. Ausgerüstet mit einem Silberbogen, eines seiner Erkennungsattribute, beschießt Apollon die Hellenen mit Pfeilen und verbreitet so die Pest. „Und es klirrten die Pfeile an den Schultern […], und er schritt hin, der Nacht gleich. Setzte sich dann, abseits von Schiffen, und sandte den Pfeil auf sie, und ein schrecklicher Klang kam von dem silbernen Bogen.“[5]

    Die Formensprache dieser dramatischen Szene folgt im Bild einem bestimmten ästhetischen Modus. Neoklassizistische Tendenzen und das Aufleben der Antike in der Kultur des 19. Jahrhunderts führten letztlich zu einem neuen Körperkult. Die Idealisierung verschiedener historisch-mythischer Vorlagen aus der griechisch-römischen Tradition wirkte auch auf die ästhetischen Präferenzen der breiten Gesellschaft. Exemplarisch für diese Bewegung wäre die Wiederbelebung der Olympischen Spiele 1896 in Athen zu erwähnen, initiiert von Pierre de Coubertin. Abgesehen von diesem Erfolgsprojekt wurden zu jener Zeit Sport und Körperpflege zum ersten Mal in der neueren europäischen Geschichte ideologisch, militärisch und im breitesten Sinne politisch instrumentalisiert.


    Erste Interpretationsebene: Formanalyse und Körperästhetik

    In einer Linearperspektive werden die dominanten Sichtachsen konstruiert. Den radial ausstrahlenden Diagonalen und der Horizontale passt sich die Aufbaustruktur des gesamten Bildes an (Abb. 2). Der Fluchtpunkt, welcher mittig am linken Rand unter dem Torbogen platziert ist, konzentriert optisch alle Körper in der Komposition, mit Ausnahme jenes des Apollon. Der dadurch erzeugte Tiefeneffekt sorgt für eine effektive Dynamisierung der Darstellung.

    Um eine gewisse Balance in der Komposition zu bewahren, werden Mittel eingesetzt, die gegen die Sogwirkung der konzentrierten Perspektivlinien arbeiten. Durch markante Blickrichtungen wird eine Wechselwirkung erreicht. Dem Auge des zielenden Apollon (Abb. 3) (rote Linie) ist das Antlitz der einzigen den Betrachtenden zugewandten Figur deutlich entgegengesetzt (schwarze Linie). Die verkrampften und expressiven Körperhaltungen einiger Schlüsselfiguren sowie die bewusst komponierte Führung länglicher Gegenstände, etwa des silbernen Pfeilköchers, bilden optische Achsen, die von unten links nach oben rechts wirken (blaue Linien). Um die dadurch gesteigerte Dramatik zu neutralisieren, ist die Szene vor einer statischen, detaillosen Hintergrundarchitektur angesiedelt. Auch die für Alexander Rothaug typische pastellartige Palette, die chromatisch in Ocker, Blau und Orange gehaltene Tonalität, mildert die expressive Gesamtstimmung der Komposition.

    Dieser konsequente Bildaufbau scheint der Zurschaustellung der opulenten Körperlichkeit des Hauptakteurs zu dienen. In der Zeit der Jahrhundertwende kulminierte auch das Interesse an der Physiologie. Erkenntnisse zur Anatomie und zur optischen Wahrnehmung wurden in die Kunsttheorien integriert. Positivistische, empiriokritische und antivitalistische Tendenzen wirkten sich auf neue künstlerische Programme und Manifeste aus. Der unkritischen Glorifizierung des antiken Menschentypus kam paradoxerweise die Naturwissenschaft entgegen und bestärkte viele Künstlerinnen und Künstler in der Darstellung übertriebener Körperformungen.

    Im populären Werk des Physiologen Ernst Wilhelm von Brücke über die menschliche Gestalt (1891) ist zu lesen: „Für die Schönheit des Rückens sind hauptsächlich drei Dinge maßgebend: die Biegung der Wirbelsäule, das Anliegen der Schulterblätter und die Gestalt des Brustkastens.“[6] Der Fokus Rothaugs auf den Rücken der griechischen Gottheit entspricht solchen Schönheitsparametern: „Wenn ein gut gebauter Rücken mit einem mäßigen Fettpolster überzogen ist, so zeichnet sich gewöhnlich zu beiden Seiten der Medianfurche in der Schultergegend eine seichte, längliche Grube aus […] Ihr deutliches Erscheinen zeugt zugleich für eine gut entwickelte Muskulatur […].“[7] Doch gänzlich im Sinne dieses Ideals wird Apollon nicht umgesetzt. Übertrieben ist vor allem die unnatürlich schmale Taille. „Das dritte wesentliche Moment für die Schönheit des Rückens ist die Gestalt des Brustkorbes. Derselbe darf weder von oben nach unten mehr als gewöhnlich kegelförmig auseinandergehen, noch darf er in seinem unteren Umfange unnatürlich verengert sein.“[8]

    Wozu also solche Extreme, oder sollte der Gestalt dadurch ein pittoreskes Aussehen verliehen werden? Es wäre nicht unumstritten zu behaupten, dass so eine Verzerrung dem ästhetischen Ideal entsprach, vielmehr konnte auf diese Weise das Symbolische der Person gesteigert werden.


    Zweite Interpretationsebene: Ikonografie und synchrone Kausalitäten

    Wie bereits Johann Caspar Lavater und vor ihm Johann Joachim Winckelmann das höchste Ideal im Antlitz der Bronzeskulptur Apollo von Belvedere (350–325 v. u. Z.) bewunderten,[9] so ließ sich auch Rothaug von der tatkräftigen Energie des Apollon hinreißen. Statt der spätklassischen Eleganz, die in der jugendlichen Vitalität des Körpers des Apollo von Belvedere zum Vorschein kommt, wird dieselbe Gestalt bei Rothaug zur respekteinflößenden Kraftmanifestation umgestaltet. Eine andere Parallele lässt sich aus der Beschreibung Brückers herleiten, und zwar aus dem Vergleich der Muskeldarstellung mit einer Landschaft: „Jeder, der ein Terrain zu beschreiben weiß, wird unterscheiden zwischen einer Ebene, aus der einzelne Hügel und Hügelketten hervorragen, und einer Ebene, die von einzelnen Tälern und Senkungen durchfurcht ist.“[10] Ähnlich wie José Ortega y Gasset in einer Studie über das Konkave und das Konvexe in der Kunst[11] versucht auch der Physiologe Ernst Brücke die Plastizität, welche auf die Bildfläche übertragen werden soll, zu beschreiben. Ähnliche physiologische Prinzipien werden auch von Rothaug in der bereits erwähnten Formlehre Statik und Dynamik des menschlichen Körpers verfolgt, wenn er schreibt, dass die anatomische Form aus Höhen und Tiefen besteht.

    Die Energie der modellierten Figur stärkt deren Sonderfunktion in der dargestellten Szene. Die Gestalt des Apollon ist mehr die eines Athleten als die eines Kriegers. Überdimensioniert, ohne schützende Rüstung, sich seiner Unverletzlichkeit bewusst, rächt er die Ungerechtigkeit. Einerseits schützend, andererseits strafend, einerseits gemäßigt pragmatisch, andererseits unerschöpflich kreativ ist Apollon die personifizierte Unberechenbarkeit. Als Projektionsfläche menschlicher Gespaltenheit wird er in der übertriebenen Pose physischer Erhabenheit als Verursacher menschlicher Tragödie gezeigt.

    Sein Zorn richtet sich dabei ausnahmslos auf die Menschen, nicht auf die architektonische Umgebung. Durch expressive, theatralische Gestik und verkrampfte Körperposen wird das physische und psychische Leid der Protagonistinnen und Protagonisten ausgedrückt. Paradox erscheint die Sterilität der Darstellung: Wie in einem aufgeräumten Bühnenbild werden die Figuren vor eine kühle Kulisse gestellt. Kein neusachlicher Kommentar zur sozialen Nachkriegstristesse, auch keine spätexpressionistische Formenfreiheit begegnet uns in diesem Bild. Als symbolistisch, jugendstillastig und neoklassisch mit einem Hang zur sonderlichen Körperästhetik wäre der stilistische Duktus zu bezeichnen. Das Sujet der Pest, das in den Nachkriegsjahren kaum aktueller sein konnte, verliert durch die Idealisierung und Heroisierung an Brisanz. Statt eines tragischen Berichts über die durch Krieg und Pandemie dezimierte Gesellschaft erblicken wir einen erbarmungslosen Rächer. Der Gott des Lichts, der Harmonie, der Medizin verliert sogar beim Töten nichts von seinem Glanz.[12] Dies ist umso beunruhigender, als dadurch der Rachegedanke nach dem verlorenen Krieg, Gewalt im Dienste höherer Ideale und die Anonymisierung der Leidenden legitimiert werden.

    Sind die Sterilität, der Verzicht auf „unschöne“ Details wie Wunden, Blut, Schmutz und Zerfall nur dem eigenen künstlerischen Empfinden geschuldet? Das Bild vermittelt eine formalisierte Realität, die als Parallelströmung zur idealistischen Subjektivierung den menschlichen Körper zweckbedingt als eine Maschine betrachtete. Die Wahrnehmung des menschlichen Körpers änderte sich Ende des 19. Jahrhunderts dank zahlreicher Entdeckungen und Erfindungen wie der Röntgenaufnahme maßgeblich.[13] Die bereits in der Renaissance angestrebte mechanistische Sichtweise des Körpers wurde legitimiert, was auch zur negativen sozialhierarchischen Objektivierung des Menschen beitrug. Kubismus, Futurismus und Konstruktivismus haben zu Beginn des 20. Jahrhunderts den immer populäreren Kanon der neuen „Körperwelten“ nicht erschaffen, sondern lautstark artikuliert. Der Mensch soll als Maschine nicht nur reparierbar sein, was dem damaligen Aufschwung in der Medizin entspricht, sondern auch erweiterbar, anpassbar und nachrüstbar. So konnten sich mehrere irreführende Methoden und Disziplinen etablieren, die die Menschheit zur quantitativen und qualitativen Steigerung führen sollten. Als besonders fatales Beispiel wäre an dieser Stelle die Eugenik zu nennen.

    Den Menschen funktionell, als eine Maschine anzusehen, wie es Rothaug in seinem Text von 1933 tut, ist an sich nicht gänzlich abwegig. Der Arzt Fritz Kahn hat 1926 neue didaktische Wege beschritten, indem er auf seinem berühmten Plakat Der Mensch als Industriepalast den Körper zur Fabrik erklärte. Wie aber viele andere Beispiele aus der Wissenschaftsgeschichte zeigen, führte eine unkritische Objektivierung des Menschen auch zu einer Dehumanisierung, indem der Schein mehr galt als das Sein.


    Dritte Interpretationsebene: das Nachleben des Bildes, eine diachrone Positionierung

    1920 können wir als Inspiration für das gewählte Sujet das naheliegende historische Ereignis des Ausbruchs der Spanischen Grippe heranziehen. Am Ende des Ersten Weltkriegs und unmittelbar danach dezimierten die drei Wellen dieser Pandemie die bereits geschwächte Bevölkerung. Alexander Rothaug muss in Wien die Auswirkungen der Spanischen Grippe mitbekommen haben. Die Verknüpfung der Nachkriegspandemie mit dem antiken Mythos wurde sicherlich bewusst hergestellt. Der Apollon-Mythos dürfte nämlich Rothaug schon früher bekannt gewesen sein, weil er diesen bereits 1914 gemeinsam mit Rudolf Jettmar in der großen Kuppel des Kursaals von Meran künstlerisch verarbeitete.

    Hätten wir als Gesellschaft seit dem Frühjahr 2020 keine Erfahrungen mit einer globalen Pandemie gemacht, wäre diese Apollon-Darstellung wohl in der Historie eingekapselt. Geschehnisse jüngster Zeit haben das Motiv wieder aktualisiert: Die ökologisch-politisch-pandemischen Bedingungen im Jahr 2021 weisen Analogien zur Zeit um 1920 auf. Die naheliegendste Analogie wäre selbstverständlich die von einer gefährlichen Krankheit heimgesuchte Gesellschaft. Blicken wir tiefer, finden wir weitere, durchaus beunruhigende Aspekte, die den Vergleich plausibler machen.

    Zu behaupten, unsere Gesellschaft hätte sich beim Ausbruch der Pandemie nicht in einem Krisenzustand befunden, wie es nach dem Krieg 1918 der Fall war, ist unkorrekt. Themen unserer Zeit wie hybride Kriegsführung, Postfaktizität, Fluchtbewegungen, Rassismus, Xenophobie, Klimakrise lasten auf der gesamten Menschheit. Ein erbarmungsloser Gott als Rächer unserer Taten ist zwar in der heutigen visuellen Kommunikation ein Anachronismus, das Bild der „verdienten“ Strafe bietet aber durchaus kritische Anhaltspunkte. Diese finden wir in der Polarisierung der Gesellschaft, die sich einerseits trotz allen Krisenbewusstseins nur langsam von gewohnten Weltbildern löst und andererseits immer noch gemeinsamer Feindbilder bedient, seien diese Flüchtlinge, Juden, Muslime, Christen, Reiche, Arme, Aktivisten, Fundamentalisten, Konspiratoren oder Querdenker. Der Personenkult neuer Diktatoren, die Ausbreitung konfliktreicher Ideologien und die virulente Virtualität der digitalen Massenmedien indizieren die Pathologien der postmodernen Gesellschaft und lassen die fatale Idee einer dehumanisierten Menschen-Maschine sowie das „Schönreden“ von Verbrechen im Dienste höherer Ideale auch im 21. Jahrhundert wiederaufleben.


    Das diskonforme Bild und der institutionelle Diskomfort

    Die Figur Apollons mit einem idealisierten Führer und die Hellenen mit einer zu bestrafenden Feindesgruppe gleichzusetzen fiel der Propaganda des Dritten Reiches bestimmt nicht schwer. Heroen, die über Merkmale körperlicher und geistiger Überlegenheit verfügen, wirkten und wirken identitätsstiftend. Nach der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ist in der Körperkultur ein Paradigmenwechsel feststellbar, der sich auch in der Kunstproduktion widerspiegelt. In den „Roaring Twenties“ wurden immer noch Themen und Stile gepflegt, die die aufkommenden totalitären Systeme dann instrumentalisierten. Beim Vergleich von Apollo, die Pestpfeile aussendend mit einem weiteren Bild Rothaugs in der Sammlung des Belvedere, Kassandra aus dem Jahr 1911, lassen sich weitere Analogien feststellen (Abb. 4).

    Kassandra, die Tochter des trojanischen Königs Priamos, wird von Apollon mit der Gabe des Weissagens beschenkt, da sie aber seine Liebe nicht erwidert, verflucht der Gott sie, sodass ihre Prophezeiungen keinen Glauben finden.[14] In der Darstellung erkennen wir die Gestalt Kassandras auf der Treppe zum Tempel stehend. Ihre Warnungen bleiben von der tobenden Menge ungehört. In gewisser Weise könnten die beiden Bilder als Pendants gesehen werden, was ihre Deutung betrifft: die Kassandra-Szene als Warnung vor der drohenden Gefahr, 1911 wäre dies der sich ankündigende militärische Konflikt. Die Apollon-Darstellung dagegen als Bestrafung für die in den Kriegsjahren begangenen Fehler.

    Wenn Rothaug Themen aus der apollinischen Mythologie wählt beziehungsweise das orgiastische Feiern der Anhängerinnen und Anhänger des Dionysos (Bacchus) darstellt, kann er auf wichtige philosophisch-ästhetische Abhandlungen zurückgreifen. Friedrich Nietzsche erklärt in Die Geburt der Tragödie (1872) das Nebeneinander des Apollinischen und des Dionysischen als das schöpferische Spannungsverhältnis, zum Beispiel zwischen dem Produktiven und dem Destruktiven, in jedem, nicht nur künstlerischen, Kreativakt: „Dabei darf von jenem Fundamente aller Existenz, von dem dionysischen Untergrunde der Welt, genau nur soviel dem menschlichen Individuum ins Bewußtsein treten, als von jener apollinischen Verklärungskraft wieder überwunden werden kann, so daß diese beiden Kunsttriebe ihre Kräfte in strenger wechselseitiger Proportion, nach dem Gesetze ewiger Gerechtigkeit, zu entfalten genötigt sind.“[15] Wenn diese Wechselseitigkeit nicht als Grundkonzept der Kunst begriffen wird, kann eine eingeschränkte Sichtweise zur ideologischen Polarisierung führen. Bilder zu instrumentalisieren bedeutet im Prinzip, deren Komplexität zu negieren und nur auf einer situationskonformen Inhaltsebene zu basieren. Schwarz-Weiß-Denken lässt wenig Spielraum für intensivere Einblicke in die Kunst, die aus dem ewigen Lavieren zwischen harmonischer, maßvoller Schönheit und trunkener Raserei entsteht.[16]

    Je tiefer in die Schichten der formalen Strukturen der Bilder vorgedrungen wird, umso weitreichender und problematischer erscheinen auch die inhaltlichen Spuren, die zu historischen Deutungen, aber auch zu Analogien im Heute führen. Derlei Bilder im Museumsbetrieb zu behandeln muss auch bedeuten, sich ihrer möglichen Kontaminierung bewusst zu sein. Andererseits bieten solche Objekte die einzigartige Chance, die eigene Kultur und die durch sie vertretenen Wertesysteme aus anderen Perspektiven zu betrachten. Das Faszinierende an diskonformen Bildern, welche politisch kontaminiert wurden, indem sich zum Beispiel ihre Autorinnen und Autoren diskreditierten, ist, dass sie eben die Manipulationsmechanismen deutlich machen. Sehr oft ist das Bild zu seiner Entstehungszeit ein neutrales Medium, welchem im Nachhinein kontroverse Inhalte zugeschrieben werden. Solche primären und sekundären Deutungsschichten voneinander zu trennen ist ein interpretatorisches Abenteuer und in der Präsentation eine kuratorische Herausforderung.

     

    Anmerkungen

    Günter Herbst, „Atelierbesuch bei dem Wiener Maler Alexander Rothaug“, in: Flensburger Nachrichten, 3.8.1938, zit. nach Horst G. Ludwig, Alexander und Leopold Rothaug. Zwei Wiener Maler um 1900, München 2009, S. 14f.

    Herbst 1938 (wie Anm. 1), S. 14.

    Siehe zum Beispiel Bernhard Fulda, „‚Hinter jedem Busch lauert Verkennung und Neid.‘ Emil Noldes Reaktion auf den Sieg der Traditionalisten“, in: Wolfgang Ruppert (Hg.), Künstler im Nationalsozialismus, Wien 2015, S. 261–286.

    Herbert Hunger, Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, Wien 1959, S. 39f.

    Homer, Ilias, neue Übertragung von Wolfgang Schadewaldt, Frankfurt am Main 1975, S. 8.

    Ernst Brücke, Schönheit und Fehler der menschlichen Gestalt, Wien/Leipzig 1905, S. 91.

    Brücke 1905 (wie Anm. 6), S. 94f.

    Brücke 1905 (wie Anm. 6), S. 95.

    Vgl. Charlotte Steinbrucker, Lavaters physiognomische Fragmente im Verhältnis zur bildenden Kunst, Berlin 1915, S. 19f.

    Brücke 1905 (wie Anm. 6), S. 94.

    José Ortega y Gasset, Eseje o umení, Bratislava 1994, S. 45–61.

    Michael Jordan, Encyklopedie bohů, Prag 1997, S. 43.

    Vgl. Hans Belting, Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2002, S. 90.

    Vgl. Herbert Hunger, Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, Wien 1959, S. 180f.

    Friedrich Nietzsche, „Die Geburt der Tragödie“, in: ders., Menschliches Allzumenschliches und andere Schriften. Werke 1, Köln 1994, S. 149f.

    Walter Kaufmann, Nietzsche. Philosoph – Psychologe – Antichrist, Darmstadt 1982, S. 149.


    Abbildungen

    • 1946 Nachlass des Künstlers, Wien
    1947 Legat aus Nachlass des Künstlers, Wien, über Leopold Rothaug
    • Rothaug, Alexander: Skizzen aus Miramar, Wien 1912
    • Rothaug, Alexander: Statik und Dynamik des menschlichen Körpers nach seiner neuen Methode vom akad Maler Alexander Rothaug, Wien 1933
    • Kaindl F.: „Rothaug, Alexander“, in: Österreichisches Biographisches Lexikon 1815–1950, Bd. 9, Wien 1988, S. 283
    • Ludwig G., Horst: Alexander und Leopold Rothaug. Zwei Wiener Maler um 1900, München 2009